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Titel
Civitates, regna und Eliten. Die regna des Frühmittelalters als Teile eines ‚unsichtbaren Römischen Reiches‘


Herausgeber
Strothmann, Jürgen
Reihe
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (124)
Erschienen
Berlin 2020: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 250 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laury Sarti, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das Jahr 476, in dem das junge Kaiserchen Romulus Augustus durch den Heerführer Odoaker abgesetzt und samt Spesen in eine Villa bei Neapel geschickt wurde, wird bis heute gerne mit dem Ende eines weströmischen Kaisertums verbunden, auch wenn nicht nur die jüngere Forschung regelmäßig hervorgehoben hat, inwiefern die tatsächlichen Verhältnisse doch deutlich komplexer waren. Dies ist auch das Ziel des hier zu besprechenden Aufsatzbandes, dessen Herausgeber Jürgen Strothmann das Konzept eines „unsichtbaren Römischen Reiches“ dazu nutzt, um nach den materiellen, strukturellen und gesellschaftlichen Überbleibseln des dahinscheidenden Kaiserreiches in einer als post-römisch verstandenen Welt zu fragen.

Die Frage, was nach dem 5. Jahrhundert im Westen vom Römischen Reich geblieben war, wurde in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt, wobei hier beispielhaft auf den Freiburger Band zur Antike im Mittelalter. Fortleben – Nachwirken – Wahrnehmung aus dem Jahr 20141 sowie auf den Wiener Band Transformations of Romanness in the Early Middle Ages von 20162 verwiesen sein soll. Der vorliegende Band, der auf ein Kolloquium zurückgeht, das in Siegen stattfand und von der dortigen Philosophischen Fakultät finanziert wurde, fragt nach dem Fortbestehen imperial-römischer Grundbedingungen, insbesondere nach entsprechenden Kommunikationsräumen. Die civitates, regna und Eliten werden dabei als kommunikativ vernetzte Akteure des Imperium Romanum sowie als tragende Elemente von Kontinuität innerhalb der post-römischen Gesellschaften verstanden.

Der Band besteht aus insgesamt zehn Aufsätzen, einer Übersicht über die civitas-Hauptorte Galliens sowie einem Register zu Personen, Orten und ausgewählten Sachbegriffen. Der erste von insgesamt drei Beiträgen des Herausgebers (S. 1–13) führt in das Konzept eines „unsichtbaren Römischen Reiches“ ein. Dieses möchte vor allem als methodisches Instrument verstanden werden um, „den Zusammenhang zwischen dem Weströmischen Reich und seinen Nachfolgegesellschaften zu verstehen“, wobei unterstrichen wird, dass das früheste Mittelalter sich nur schwerlich von der ausgehenden Antike abgrenzen lasse und es „keinen maßgeblichen Kampf der Kulturen zwischen Romanen und Germanen“ gegeben habe. Mittelalterliche Antikenrezeption seien nicht „die Auseinandersetzung mit dem überlegenen Fremden, sondern mit der eigenen Identität“ (S. 1).

Ulrich Huttner (S. 11–14) eröffnet die Untersuchungen, indem er eine Inschrift aus dem kleinasiatischen Hierapolis nutzt, um einen Blick auf römerzeitliche Interpretationen des biblischen Unsichtbarkeitsbegriffs zu werfen. Hierbei weist er darauf hin, „dass zeitgenössische Kleriker […] die sich unterschwellig bemerkbar machenden Spuren imperialer Strukturen wohl nicht als etwas ‚Unsichtbares‘ bezeichnet hätten“. Gleichzeitig schlägt Huttner vor, die Geschichte des „unsichtbaren Römischen Reiches“ als Geschichte der Deinstitutionalisierung dieses Reiches zu deuten“ (S. 14). Anschließend fragt Strothmann (S. 15–31), inwiefern sich das „unsichtbare Römische Reich“ im Verbund post-römischer Kleinstaaten fassen lässt, indem er das südiberische Urso (heute Osuna), deren römisches Stadtrecht als Lex Ursonensis inschriftlich auf vier Bronzetafeln überliefert ist, mit den Angaben aus den frühmerowingischen Formulae Andecavenses vergleicht. Dabei stellt er handlungsfähige Reste städtischer Selbstverwaltung fest, allen voran die Verwaltung und Rechtsprechung durch fortbestehende aristokratische Grundstrukturen und die von ihnen geprägten sozialen Räume. Im folgenden Beitrag fragt Daniel Syrbe (S. 33–58) nach imperialen Überbleibseln im spätantiken Nordafrika und stellt dabei fest, dass in den städtischen Regionen die für das antike Kommunikationsnetz benötigte urbane und rechtliche Infrastruktur auch über das 5. Jahrhundert hinaus weitgehend bestehen blieb. Doch obwohl die politischen Umbrüche der Spätantike hier noch nicht durchgehend eine merkliche Zäsur mit sich gebracht hatten, waren auch hier die „Bausteine nach-römischer Ordnungen“ (S. 66), deren Strukturen zum Beispiel im regnum der Vandalen ihre Funktion weitgehend verloren hatten, auf die lokale Ebene beschränkt.

Zwei Beiträge widmen sich den lateinischen Sprachzeugnissen. Albrecht Greule (S. 97–109) fragt nach dem Fortbestehen römischer Kommunikationsräume im Raum Bayern, mit Regensburg (Regino) als zentralem Ort, für den die civitas als Einheit jedoch weitgehend fehlte. Hierzu untersucht er auch im Frühmittelalter vermehrt tradierte romanische Ortsnamen als Beleg für die Kontinuität römischer Sprache und Traditionen, wobei sich die Schwierigkeit stellt, dass das Fortbestehen von Gemeinden mit lateinischen Namen nicht zwangsläufig mit der Persistenz romanischer Gemeinden erklärt werden muss. Die Untersuchung wird durch einen umfassenden Katalog der belegten Ortsnamen ergänzt. Ein vergleichbarer Ansatz verfolgt Wolfgang Haubrichs (S. 111–153), der sich mit den inschriftlich überlieferten toponomastischen Belegen als Hinweise für das Fortbestehen romanischer Sprache und Kultur in den ehemals imperialen Herrschaftsräumen um Metz, Köln, Trier, Reims, Soissons und Basel befasst. Dabei stellt er fest, dass antike sowie subantike Toponyme, zum Beispiel mit Endung auf -(i)acum, mancherorts bis ins frühe 7. Jahrhundert zu fassen sind.

Auch im Zentrum der anschließenden Beiträge steht der gallo-fränkische Raum. Helga Scholten (S. 69–96) untersucht die Werke des Salvian von Marseille, um nach der zeitgenössischen Wahrnehmung des Zusammenbruchs imperialer Strukturen und dem fortbestehenden römischen Kommunikationsraum zu fragen, indem nach entsprechenden Denkmustern, Bildung und Lebensweisen gesucht wird. Aus der Perspektive Salvians widersprachen sich christlicher und römischer Lebensstile weitgehend, welche mit Ausnahme von Elementen wie dem gebildeten Briefaustausch weitgehend unterschiedliche Wertvorstellungen verkörperten. Der zweite Aufsatz von Strothmann (S. 155–174) untersucht die merowingischen Monetarmünzen und deren Prägeorte und stellt dabei fest, dass diese immer noch eine große Mehrheit der in der Notitia Dignitatum genannten Zentralorte bezeugen, was als Beleg nicht nur für das „Fortbestehen antiker Verwaltungstechnik, sondern auch ihrer Basis, nämlich der politischen Einheiten der civitates“ (S. 162) gedeutet wird. Die civitates selbst bezeichnet Strothmann als „Stadtstaaten“, die als Strukturen des „sichtbaren“ wie auch des „unsichtbaren“ römischen Reiches bis ins 7. Jahrhundert als politisch-rechtliche Größen fortbestanden. Auch hier zeigt sich aber wieder die Schwierigkeit, dass die diskutierten Befunde nicht zwangsläufig auf das Fortbestehen altrömischer Kommunikationssysteme hindeuten, da die Wahrscheinlichkeit, dass ein bereits bestehender Ort auch zu einem späteren Zeitpunkt als zentraler Ort von Bedeutung war, auch unabhängig von solchen Kontinuitäten deutlich höher war, als dass eine Neugründung – ggf. auch mit „germanischem“ Namen – eine solche Funktion übernahm. Christian Stadermann (S. 175–200) unterstreicht die zunehmende Bedeutung lokaler Identitäten im merowingischen Gallien, indem er die zeitgenössische Wahrnehmung zentraler historischer Ereignisse am Ende des Kaiserreiches, wie die Einnahme Roms 410, mit ihrer späteren Rezeption vergleicht. Dabei unterstreicht er das bereits seit der frühen Merowingerzeit deutlich werdende Fehlen einer Identifikation mit dem Imperium, das seine „Funktion als ordnungspolitischer Bezugsrahmen“ (S. 200) verloren habe. In einem abschließenden Aufsatz fragt Hans-Werner Goetz (S. 201–226) nach der Wahrnehmung und Darstellung römischer Geschichte und der Bedeutung des bestehenden Kaiserreiches in den Werken Gregors von Tours, Ados von Vienne und Reginos von Prüm sowie der sogenannten Fredegarchronik. Er zeigt dabei auf, dass imperiale Elemente auch hier nur sehr bedingt zu fassen sind, das Bewusstsein einer Kontinuität des Reiches kaum belegt ist. Die „römische“ Geschichte sei für alle Autoren beendet, auch wenn das Interesse für das Imperium bei Fredegar und Ado besonders ausgeprägt sei. Dennoch werde weder das Ende noch die Kontinuität des Kaisertums bezeugt, letzteres werde wenn dann im zunehmend als griechisch verstandener Osten verortet. Dem Beitrag folgt ein Exkurs zu den Namen des Polyptychons von Saint-Germain-des-Prés, das mehrere hörige Bauern als Träger römischer Kaisernamen bezeugt.

Der Band ist weitgehend konsistent, auch wenn das Konzept des „unsichtbaren Römischen Reiches“ nicht in allen Beiträgen gleich prominent angewandt wird. Der erklärte Versuch des Bandes, „die Epochengrenzen von vorneherein aufzulösen“, wird aber durch die terminologische Unterscheidung zwischen einer Zeit des „Weströmischen Reiches“ und einer „Zeit der Nachfolgereiche“ etwas erschwert (S. 2), die Eliten und regna werden im Vergleich zu den civitates nur wenig behandelt. Das auf Kontinuität ausgerichtete Konzept des „unsichtbaren Römischen Reiches“ erweist sich aber insgesamt als fruchtbar, indem es ermöglicht, imperiale Überbleibsel festzustellen und zu beschreiben. Wichtig ist, wie auch Huttner aufzeigt, dass die Suche dabei nicht auf vermeintlich römisch-imperiale und damit auch durch die heutige Perspektive definierte Elemente beschränkt wird, da so eventuelle Aspekte, die aus zeitgenössischer Perspektive relevant gewesen wären, übersehen werden könnten. Es ist gerade die Aussicht auf solch unerwartete Elemente, die m.E. auch anschließende Suchen nach dem „Unsichtbaren“ besonders interessant und lohnend machen würden. Eine verspielte Chance des Bandes ist das Fehlen einer abschließenden Einordnung und Bewertung des angewandten Konzepts, der Methoden und der damit erzielten Ergebnisse, und inwiefern diese es ermöglichen, unser Wissen über die untersuchte Epoche zu erweitern.

Anmerkungen:
1 Sebastian Brather u.a. (Hrsg.), Antike im Mittelalter. Fortleben – Nachwirken – Wahrnehmung, Stuttgart 2014.
2 Walter Pohl u.a. (Hrsg.), Transformations of Romanness in the Early Middle Ages. Regions and Identities, Berlin 2016.